Chronik zur Jahrestagung des Kriegsenkel e. V. 2018
Thema: In den Schuhen des Anderen – Annäherungen an ein gemeinsames Erbe
Chronist: Sven Rohde
Gehversuche in den Schuhen des Anderen
„Jetzt könnte die Tagung eigentlich richtig beginnen!“ Fast zwei gemeinsame Tage, ein Theaterstück, fünf Vorträge, vier Workshops, ein Konzert mit Lesung und eine Film-Preview waren schon vorbei, als dieses Gefühl auf einmal ganz präsent ist: dass es jetzt eigentlich losgehen könnte! Ja, dass es jetzt losgehen sollte! Dass wir erst jetzt, nach vielen Stunden des Zuhörens, der Diskussion, der gemeinsamen Mahlzeiten einander so nah gekommen sind, um wirklich zu empfinden, wie unterschiedlich der Krieg und seine Folgen in uns nachwirken, wenn wir im jeweils anderen Teil Deutschlands aufgewachsen sind. Aber da ist die Tagung fast beendet, und es bleibt der Rückblick.
Grenzgänger
„In den Schuhen des Anderen – Annäherungen an ein gemeinsames Erbe“: So lautet der Titel der Jahrestagung 2018 des Kriegsenkel e.V. in der evangelischen Akademie Loccum. 60 Teilnehmerinnen und Teilnehmer sind gekommen, etwa zu gleichen Teilen mit Ost- und Westbiografien, angelockt von der Einladung, in der es heißt: „2019 jährt sich der Mauerfall zum 30. Mal. Schon jetzt ein Anlass, Fragen zu stellen und wieder neu auf Stimmen aus dem Osten und dem Westen Deutschlands zu hören, auch auf solche, die sich als Grenzgänger inzwischen in beiden Welten auskennen: Welche unterschiedlichen Kontinuitäten gab es nach dem Krieg hüben und drüben? Was hat das für den Umgang mit der Vergangenheit bedeutet, in den Familien, in den Kollektiven? Worin gleichen sich die Perspektiven heute, worin weichen sie voneinander ab? Wie gut haben wir uns eigentlich schon kennengelernt und darüber zu einer gemeinsamen Sprache gefunden? Auf unserer Tagung wagen wir uns suchend und tastend auf wenig bekanntes Terrain vor. Vielleicht ist es zu früh für Antworten, aber die Fragen steigen längst auf. Das Treffen ist eine Einladung zum Austausch und dazu, „sich in die Schuhe des Anderen zu stellen“, den wir verstehen wollen.“
Wuchtige Einstimmung
Mit dem gemeinsamen Abendessen beginnt es, und danach dauert es nicht lange, bis die Vorfreude einem unbestimmten Grauen weicht. Ein Theaterstück kommt zur Aufführung: „Er war ja nicht einmal deutsch, der Wald“. Der Schauspieler Soheil Emanuel Boroumand, Sohn einer Deutschen und eines Iraners, inszeniert die Kriegserlebnisse seines Großvaters. Vom Band hören wir die authentische Stimme des Großvaters, im kargen Bühnenbild erleben wir den Enkel, der spürbar macht, was sich hinter dem Begriff der transgenerationale Weitergabe von Traumata eigentlich verbirgt. Das Leiden der nächsten Generationen gipfelt in seinem Aufschrei: „Warum muss ich das alles wiederholen, wieder und wieder? Warum lässt mich das nicht los? Warum lässt du mich nicht los?“ Wenige Augenblicke später die Erkenntnis: „Du bist ein Teil von mir.“ Der Enkel ein Erbe des Krieges, ein Kriegsenkel. Ein eindringliches, immer wieder bedrängendes Erlebnis – und ein Glücksfall für die Tagung. Aufgerüttelt von der Intensität der Aufführung sind wir angekommen im Thema. Die anschließenden Gespräche in der Lobby der Akademie sind lebhaft. Es wird spät.
Gespaltene Erinnerung
„Der Rahmen der Erinnerung an den Krieg und die Nachkriegszeit war in Ost und West ein anderer.“ Der Satz am Beginn des Vortrags von Prof. Beate Mitzscherlich könnte harmloser nicht klingen, aber was sie damit meint, könnte dramatischer kaum sein. Denn wie sehr das offizielle Geschichtswissen in der DDR und die Erzählungen in den Familien auseinanderklaffen – das vermittelt die Psychologin, 1964 in Cottbus geboren und Professorin für Pflegeforschung an der Westsächsischen Hochschule in Zwickau, anhand von beeindruckenden Geschichten. „Gespaltene Erinnerung. Die Kinder der Kriegskinder in der DDR“ nennt sie ihren Vortrag, und sie zitiert einen Satz wie diesen: „Bevor die Russen kamen, war alles besser.“ Der natürlich nie laut fallen durfte. Da konnte es gerade noch heißen: „Wenn wir schon keine schönen Jeans haben, sind wir wenigstens das bessere Deutschland.“ Wie aber formt sich Erinnerung, wenn es davon zwei Versionen geben muss: eine staatlich legitimierte, und eine persönliche, in der das Leiden unter Zerstörung, Vertrei-bung, sexualisierter Gewalt und jahrzehntelanger Besatzung ihren Ausdruck sucht? Und wie zeigt sich das in Körperbotschaften und unerklärlichen Zusammenbrüchen? Die unverarbeiteten Erlebnisse bekommen heute neue Aktualität, etwa in der Demenz einer alten Frau: „Mit dem Pflegedienst stehen die Russen im Zimmer.“ In der Therapie, sagt die Pflegeforscherin, ginge es ihr vor allem darum, dass ihre Patientinnen und Patienten eine plausible Geschichte des eigenen Lebens entwickeln können. Für den „Westgeborenen“ – um einen Ausdruck des Referenten Hans Bartosch vorwegzunehmen – ist Beate Mitzscherlichs Vortrag eine intensive Lerneinheit über ostdeutsche Lebensläufe und die schwierigen Rahmenbedingungen, seelisch halbwegs gesund zu bleiben. – Ich hatte ja keine Ahnung…
Verminte Kindheit
Diese Mischung aus Staunen, Verstehen und Entsetzen begleitet auch den Vortrag von Birgit Neumann-Becker, Beauftragte des Landes Sachsen-Anhalt zur Aufarbeitung der SED-Diktatur. Der Titel: „Im Echoraum des Kalten Krieges. Leben unter Diktaturen und die Kostbarkeit der Freiheit.“ Mit einer persönlichen Erinnerung beginnt sie, und erneut stockt der Atem. Auf der Leinwand ein Foto verrosteter Handgranaten, und die 1963 in Görlitz geborene Theologin erzählt davon, wie sie als Kind Weltkriegsmunition als Trophäen sammelte. „Dass ich noch alle Finger habe, kann eigentlich gar nicht sein.“ Entspannt im Ton, aber inhaltlich umso intensiver beschreibt Birgit Neumann-Becker die Folgen der historischen Entwicklung in Osteuropa, der Militarisierung des Alltags, des Terrors in der UdSSR und der Kriege seit Ende des Zweiten Weltkriegs. Einen Mangel an Liebe zur Wahrheit und intellektueller Redlichkeit konstatiert sie. „Es ist furchtbar, in diesen Diktaturen gelebt zu haben – wir müssen über Freiheit sprechen und wie wir sie leben können. Die Chance unserer Generation: die aktive Erfahrung mit Brüchen. Unser Wunsch: Wir wollen keine Verlierer sein!“ Selten war die Aufforderung an die westgeborenen Anwesenden überzeugender begründet als von den Vorträgen dieses Vormittags. Birgit Neumann-Becker: „Ihr müsst den Horizont deutlich weiter machen!“
Coming Out
Wie es sich anfühlt im engen Blickfeld der Wessis – davon berichtet Sabine Rennefanz, Buchautorin und Journalistin der Berliner Zeitung. Aufgewachsen in Eisenhüttenstadt, der „sozialistischen Modellstadt“, war sie 15, als die Mauer fiel und auf einmal das gesamte Leben auf dem Kopf stand. Ein existenzieller Einschnitt, vor allem auch für den Vater, der arbeitslos wurde. Schon bald fühlte sich Sabine Rennefanz wie ein Migrant im eigenen Land, berichtet sie. Während des Studiums in Hamburg erfand sie sogar eine gutbürgerliche Herkunft aus Bremen, weil ihr die eigene ostdeutsche peinlich war. Für einige Momente wird die in Jahrzehnten aufgestaute Wut spürbar: „Absurd, dass ich fast 30 Jahre später darüber immer noch Vorträge halte!“ Diese Wut auf die Klischees über den Osten – intensiv erfahren während ihrer Beschäftigung mit den Morden der NSU – war es schließlich, die den Deckel hochfliegen ließ. Rennefanz nennt es: ihr „Coming Out als Ossi“.
Intermezzo
Erschöpft von der Wucht der Geschichten sitzt der Chronist über seinem Block, Zeile um Zeile gefüllt mit seelischen Verheerungen. „Warum tun wir uns das eigentlich an?“ Der Blick geht nach draußen. Da präsentiert sich ein strahlender Wintertag, auf der Wiese unweit vom Fenster toben Kälbchen durch den Schnee. Vielleicht doch lieber Spazierengehen…? Aber Kriegsenkel muss man ja nicht an ihre Verantwortung erinnern, das erledigen sie schon selbst. Wie kriegen wir es hin, all das nicht abzuspalten, wie kann eigentlich Heilung gelingen unter der Last dieser Geschichte? Die Antworten gibt es überraschenderweise gleich im Anschluss: in den Workshops. Die Tagungsregie von Franziska Holfert und Michael Schneider, Vorstände des Kriegsenkel e.V. hätte besser nicht planen können.
Werkstätten der Heilung
Vier sind es: „Das Unsichtbare sichtbar machen“, ein Workshop mit künstlerischen Mitteln, angeboten von Anja K. Roosen; ein „KriegsenkelLab“ mit Ingrid Meyer-Legrand; ein autobiografischer Schreibworkshop von Heidrun Schatanek unter dem Titel „Du weißt ja gar nicht, wie gut Du es hast“ und eine Gesprächsrunde mit Birgit Neumann-Becker, anknüpfend an ihren Vortrag vom Vormittag. Naturgemäß kann ein Chronist nicht von vier gleichzeitig angebotenen Veranstaltungen berichten, wohl aber vom anschließenden Plenum: offen die Gesichter, gelöst die Stimmung. Die Teilnehmer des Schreibworkshops müssen gar geholt werden, so eingesogen sind sie in ihren Prozess. Verblüffung macht sich breit, wie leicht sich auf einmal belastende Dinge anfühlen können, wenn sie in einem kreativen Prozess bearbeitet werden.
Konzert mit Lesung
Wie als Bestätigung dafür singt Rainer Trunk, Liedermacher mit gesamtdeutscher Biografie, einige Zeit später diese Zeile: „Mit jedem Lied, das ich schreibe, komme ich dir näher.“ Vom im Krieg gestorbenen Onkel, dem der 20 Jahre nach dessen Tod geborene Neffe so ähnlich sieht, handelt der Song. Ein anrührender Moment unter vielen. „Auf die Zähne beißen und sie in der Butter sehen“, hat Trunk sein Programm genannt, es bildet den Abschluss des Samstags. Inmitten einer kleinen Inszenierung aus Nierentisch, Leselampe und Rotweinglas liest und singt er sehr persönliche Geschichten, die gleichwohl bei jedem im Raum eigene Bilder wachrufen. Etwa dieser Satz: „Wie schön wäre es, einfach sagen zu können: Ich bin Klempner.“ Stattdessen schaut die Generation der Anwesenden auf – sagen wir – vielfältige Berufsbiografien zurück. Trunk ist nicht nur Liedermacher, sondern auch Lehrer und Galerist. Und Dichter schöner Zeilen: „Es führt kein Zebrastreifen über die Zeit.“ Als er zum Abschluss „Imagine“ von John Lennon anstimmt, fällt das Publikum dankbar mit ein. Einige verdrücken eine Träne im Augenwinkel.
Die Erinnerung überleben
Am nächsten Morgen dauert es nur wenige Minuten, bis sich einem wieder die Brust zusammenschnürt. Der Regisseur Martin Farkas stellt Ausschnitte seines Films „Über Leben in Demmin“ vor. Er behandelt die Folgen eines beispiellosen Massenselbstmords, der sich im Frühjahr 1945 in der vorpommerschen Kleinstadt zutrug. Bis zu 1.000 Menschen brachten sich aus Angst vor der anrückenden Roten Armee um, aus Angst vor Vergeltung, aus einem Bewusstsein der eigenen Schuld – und das Geschehen wurde nie aufgearbeitet. Diese Leerstelle nutzen heute Neonazis, um einen Opfermythos zu pflegen. Bedrängende Bilder sind es, die Farkas in dreijähriger Arbeit gedreht, schockierende Erlebnisse von Augenzeugen, die er aufgezeichnet hat. „Wir müssen ja nicht sagen, dass hier lauter Leichen geschwommen haben“, sagt ein alter Mann im Rollstuhl, der von all dem nichts mehr wissen will. Farkas belegt, was genau diese Abwehr bewirkt: „Die junge Generation weiß nicht, was los war, lebt es aber aus.“ Faszinierend, wie der Regisseur von seiner Arbeit berichtet, wie er vom krass tätowierten, hünenhaften Bäcker erzählt, vor dem er sich zunächst fürchtet. Um dann zu erleben, wie der frühmorgens einen Kaffee für den Filmemacher kocht und sich im Gespräch öffnet. Bedauern wird laut, als die Preview beendet ist, das Gespräch darüber abgebrochen werden muss, weil noch ein Vortrag auf dem Programm steht. Aber die Stimmung dreht sich schnell.
Gänsehaut
Denn Hans Bartosch tritt ans Mikro. Er ist Pfarrer, im Westen geboren und im Osten als Seelsorger tätig. Die Herkunftsbezeichnungen „westgeboren“ und „ostgeboren“ stammen von ihm. Sein Bemühen, einfach zu beschreiben, was ist, mit präzisem Blick, aber voller Mitgefühl und Humor, zieht das Auditorium in den Bann. „Damals hätte ich euch erschossen“ heißt sein Vortrag, Zitat eines Taxifahrers, der Bartosch und seine Begleitung kutschierte. Als Seelsorger ist er den Menschen nahe, und das spricht aus all seinen Geschichten. Starke Sätze fallen: „Als Kriegsenkel bin ich ein Kalter Krieger.“ Oder: „Im Osten erlebe ich Herzensoffenheit, im Westen Narzissmus.“ Er warnt vor einem „kolonialen Blick“ der Westgeborenen auf Ostdeutschland. Und so wird unversehens aus Rückblick auf den Krieg und die Nachkriegszeit eine Lehrstunde darüber, wie heute schnelle Urteile auf beiden Seiten den Dialog zum Erliegen bringen können. Wie es anders geht, erleben wir auf der Tagung. Eine Teilnehmerin spricht Bartosch direkt an: „Wie selten man die eigene Geschichte aus Westperspektive so differenziert erzählt bekommt! Und das ohne Bewertungen! Ich krieg’ ne Gänsehaut!“
Gemeinsam angekommen
Auch das ein Teil der Antwort auf die Frage, die den Chronisten durch die Tagung begleitet hat: „Warum tun wir uns das eigentlich an?“ Weil es wirklich interessant ist, unglaublich spannend. Wir haben viel erfahren. Wir konnten nachempfinden, wie es sich anfühlte, in den 60er oder 70er Jahren ost- oder westgeboren zu sein. Wir wissen jetzt, was wir alles nicht wissen. Und warum wir neugierig bleiben sollten. Weil nur Anschauen und Bewusstheit helfen, Heilung anders nun mal nicht gelingt. Wir erleben ja in unseren Familien und Freundeskreisen, welche Verheerungen die Verdrängung anrichtet. Wie schreibt die Traumatherapeutin Luise Reddemann: „Es geht darum, nicht nur zu wissen, sondern auch sich erschüttern zu lassen, um zu trauern und die Vergangenheit zu akzeptieren, wie sie war, um schließlich gegenwärtiger sein zu können.“ Am Ende der Tagung sind wir in der Gegenwart angekommen. Und es geht ja weiter – mit der nächsten Jahrestagung vom 4. bis 6. Oktober 2019 im thüringischen Neudietendorf. Kurz bevor sich der Mauerfall zum 30. Mal jährt.