Online-Tagung 2022
19. Februar 2022
Was wir weitergeben
Vom Begreifen des Traumas zum Gestalten tragfähiger Beziehungen
in Zeiten gesellschaftlicher Spannungen.
Die Frage der transgenerationalen Vererbung von Traumata ist ein zentrales Thema für die Kriegsenkel. Nicht allein, dass wir Belastungen in uns tragen, die uns von Eltern oder Großeltern vererbt wurden – wir können auch selbst zu Überträgern dieser „Gefühlserbschaften“, wie Freud sie genannt hat, an unsere Nachkommen werden. Diese Befürchtung ist vielen von uns stets präsent. Denn natürlich wünschen wir uns, dass die nächsten Generationen ihr Leben frei gestalten können, nicht mehr von einer Last gebremst, die noch aus der Zeit der Weltkriege und des Nazi-Regimes stammt.
„So als ob es gestern wär‘ …“ Diese Zeile des berührenden Lieds „Vier Brüder“ von Reinhold Beckmann erzählt davon. Denn das ist es ja, was viele von uns erleben, was sie nicht ruhen lässt: dass die Vergangenheit eben nicht vergangen ist. Der Musiker und TV-Journalist wird von der Geschichte seines Songs berichten, wie es war, ihn am Volkstrauertag im Bundestag zu singen, sowie von der großen Bedeutung, die Erinnerung an diese dunkelste Zeit deutscher Geschichte wachzuhalten.
Der erste Online-Tag des Kriegsenkel e.V. spannt den Bogen von persönlichen Erfahrungen, wie sie sich auch im Beitrag von Wolf Ritscher spiegeln – er reflektiert die Auswirkungen des Nazi-Terrors auf seine deutsch-jüdische Familie –, zur aktuellen Situation in der Pandemie. Luise Reddemann, eine der renommiertesten deutschen Traumatherapeutinnen, hat früh erkannt, dass die Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie aus dem Krieg stammende Traumata aktivieren können. Aber sie hat auch eine für ihr Schaffen typische Botschaft in einem Interview geäußert: Es gehe um Freundlichkeit und Mitgefühl für sich selbst. „Man kann sich sagen: ‚Das ist jetzt schwer für mich‘ und sich in der Vorstellung tröstend umarmen.“ Schließlich wollen wir besprechen, wie Traumata geheilt werden können. Das wird die Traumatherapeutin Angelika Doerne in den Mittelpunkt ihres Beitrags stellen. Der Aspekt der Scham spielt für sie dabei eine wichtige Rolle.
Uns, dem Vorstand des Kriegsenkel e.V., ist bewusst, dass es bei einer Tagung des Vereins nicht allein um die hochkarätigen Inhalte geht – auch der persönliche Kontakt ist wichtig! Deswegen haben wir für das Event eine Plattform ausgewählt, die auf einfache Weise auch den Austausch ermöglicht. Und selbstverständlich wird es auch die Möglichkeit geben, den Referent:innen Fragen zu stellen.
Zum Beitrag: für Mitglieder des Kriegsenkel e.V. kostet die Teilnahme 50 Euro, für Nicht-Mitglieder 70 Euro. Worauf wir gerne hinweisen: Der Jahresbeitrag für eine Mitgliedschaft beträgt nur 30 Euro. Und hier geht’s zur Anmeldung für das Online-Event.
Wir sind sehr gespannt den Tag und freuen uns auf Sie alle!
Michael Schneider, Anja Lorenz, Sven Rohde
Über die Referent:innen und ihre Beiträge
Luise Reddemann
„Die Geschichte anerkennen und würdigen – damit das Leben gut weitergehen kann“
Wenige Therapeut:innen in Deutschland haben sich so intensiv mit den Folgen und der Verarbeitung des Erbes von Krieg und Nazi-Diktatur in den Seelen auseinandergesetzt wie Luise Reddemann. 1943 als Tochter von überzeugten Nationalsozialisten geboren, benennt sie die Verantwortung der Kriegskinder für die transgenerationalen Lasten der Kriegsenkel. Das daraus resultierende Leid müsse anerkannt und gewürdigt werden. Zugleich betonte Luise Reddemann in einem Interview zum Thema Kriegsenkel die Verantwortung jeder Generation für die folgende: „Trauern ist wichtig, aber irgendwann muss es damit gut sein. Denn jetzt könnt ihr mit euch selbst liebevoll sein, ihr könnt mit euren Kindern liebevoll sein. Ihr könnt ihnen sagen, dass ihr bedauert, was ihr aufgrund eurer Prägungen anders gemacht habt, als es richtig gewesen wäre. Das finde ich mindestens so wichtig, wie sich immerfort mit der Vergangenheit zu befassen. Man muss in der Gegenwart ankommen!“
Professorin Dr. med. Luise Reddemann ist Psychiaterin, Psychoanalytikerin und Fachärztin für Psychotherapeutische Medizin. Seit mehr als 50 Jahren beschäftigt sie sich intensiv mit Trauma und Traumafolgestörungen. Sie war Leiterin einer Klinik für Psychotherapie und psychosomatische Medizin und entwickelte dort die »Psychodynamisch imaginative Traumatherapie« (PITT) zur Behandlung von Menschen mit komplexen Traumafolgestörungen. Sie hat zahlreiche Bücher geschrieben, darunter „Die Imagination als heilsame Kraft“, „Kriegskinder und Kriegsenkel in der Psychotherapie“ und „Trauma ist nicht alles“. Ihr neuestes Buch „Die Welt als unsicherer Ort“ beschäftigt sich mit der Frage, wie vulnerable Menschen gut durch Krisen zu begleiten sind.
Reinhold Beckmann
„Vier Brüder“ – ein Lied und seine Geschichte
„Hinter deinen Augen warten Tränen / jeden Tag und jedes Jahr“: Mit diesen Liedzeilen begann Reinhold Beckmann am 14. November 2021 seinen bewegenden Auftritt bei der offiziellen Feierstunde zum Volkstrauertag im Deutschen Bundestag. Gemeinsam mit seiner Band, Musikern der Bundeswehr und und dem Landesjugendchor Thüringen trug er das Lied „Vier Brüder“ vor. Seiner Mutter Aenne ist es gewidmet. Sie trauerte zeitlebens um ihre vier Brüder Alfons, Hans, Franz und Willi, die alle im 2. Weltkrieg sterben mussten; der Jüngste erst 17 Jahre alt, „geopfert für ein Mörderland“, wie Beckmann singt. Gelebte Erinnerungskultur, die auch dank seiner Popularität ein großes Publikum erreicht. „Ich finde es wichtig, dass diese Geschichte immer wieder erzählt wird. Deswegen habe ich dieses Lied geschrieben. Wir haben viele persönliche Reaktionen darauf bekommen.“
Reinhold Beckmann, 1956 geboren, wurde bekannt als TV-Moderator von Fußball-Sendungen, Talkshows und Reportagen. Heute arbeitet er vor allem als Musiker, Sänger und Songschreiber sowie als TV-Produzent in Hamburg. Für seine Arbeit im Fernsehen wurde er mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet. Seit langem engagiert er sich sozial mit der von ihm gegründeten Initiative NestWerk e.V. für benachteiligte Jugendliche. Er ist Träger des Bundesverdienstkreuzes am Band.
Angelika Doerne
„Können transgenerationale Traumata und Scham heilen?“
Diese Frage stellen sich viele, deren Eltern und Großeltern den Krieg erlebt haben. Ihre Erfahrungen können sich bei uns in Form von Depressionen, Ängsten, Traumareaktionen, psychosomatischen Beschwerden, sowie Scham und Schuld ausdrücken. All dies beeinträchtigt unsere Fähigkeit, in Beziehung zu gehen und Konflikten zu bewältigen. Was zeichnen Traumata und Scham aus? Inwiefern übernehmen wir diese von unseren Eltern und Großeltern? Ist es möglich, diese zu heilen, auch wenn wir sie gar nicht selbst erlebt haben? Und wenn ja, was braucht es dafür? Diesen Fragen geht Angelika Doerne in ihrem Vortrag anhand von konkreten Beispielen nach.
Angelika Doerne, 1972 geboren, ist Diplom-Pädagogin, Gestalttherapeutin, Familienaufstellerin, Traumatherapeutin sowie Yoga- und Meditationslehrerin. Sie hat eine Praxis für ganzheitliche Psychotherapie & Lebensentfaltung in München und leitet Ausbildungen in ‚Körper- und tiefenpsychologisch orientierter Traumatherapie‘. Gemeinsam mit Laurence Heller, Entwickler der Therapie NARM, ist sie Autorin des Buches ‚Befreiung von Scham und Schuld‘.
Wolf Ritscher
„Transgenerationale Vermächtnisse: Die Folgen des nationalsozialistischen Terror- und Mordsystems für meine deutsch-jüdische Familie“
„Vermächtnisse lassen sich definieren als generationenübergreifende Botschaften, die in die familiäre Kommunikation eingewoben sind“, sagt Wolf Ritscher. In der Weitergabe der Vermächtnisse zwischen den Generationen verknüpften sich Risiko und Chance. „Das Risiko der Entwicklungsblockierung ist das eine, die Chance liegt darin, dass jede Generation die Möglichkeit hat, entsprechend ihrer Ressourcen sich der Bewältigung von Vermächtnissen zuzuwenden. Als Vater von heute drei erwachsenen Kindern kann ich vorbehaltlos der familiendynamischen These zustimmen, dass jede Familiengeneration die Chance hat, an der transgenerationalen Lösung schwieriger Familienthemen mitzuwirken.“
Dr. Wolf Ritscher, geboren 1948, ist ein Psychologe, Sachbuchautor, Familien-, Paar-, Gruppentherapeut und Supervisor. Bis 2011 lehrte er als Professor für Psychologie an der Hochschule für Sozialwesen in Esslingen. Ein Schwerpunkt seiner Arbeit und Forschung: die psychosozialen Folgen des Nationalsozialismus und Bildungsarbeit an Gedenkstätten des nationalsozialistischen Terrors. Er ist Mitglied im wissenschaftlichen Beirat des Carl Auer Verlages und ehemaliges Mitglied im Stiftungsrat der Internationalen Jugendbegegnungsstätte in Auschwitz/Oswiecim.
Ausführliche Informationen zu Programm, Referent*innen, Künstler*innen, Kosten und Anmeldemöglichkeiten veröffentlichen wir hier, sowie in unseren Newsletter und auf unseren Facebook-Präsenzen. Verschaffen Sie sich gern jetzt schon einen Eindruck zum Format unserer Tagungen, indem Sie unsere Informationen weiter unten lesen. Umfangreiche Einblicke in einige unserer vergangenen Tagungen mit Fotos und Teilnehmerstimmen finden Sie in unserem Blog.
Format
Der Kriegsenkel e. V. richtet seit 2012 thematische Tagungen aus, in denen die Kriegsenkel-Thematik aus verschiedenen Perspektiven betrachtet wird. Gemeinsam mit Referent*innen, Workshopleiter*innen, Künstler*innen, Teilnehmer*innen und Organisator*innen bewegen wir neue Impulse zum Thema. Wir vertiefen unser Wissen, tauschen persönliche Erfahrungen und Empfindungen aus, nehmen Anteil an der Zeitgeschichte sowie unserer damit verbundenen persönlichen, individuellen Geschichte und begleiten uns gegenseitig auf dem Weg in den inneren und äußeren Frieden.
Unsere Tagungen stehen seit jeher allen Menschen offen, die sich für die Kriegsenkel-Thematik interessieren: persönlich Betroffene, die ganz am Anfang mit dieser biografischen Betrachtungsperspektive stehen oder jene, die bereits sehr erfahren in dieser persönlichen Auseinandersetzung sind; Menschen, die sich künstlerisch, forschend, wissenschaftlich oder medienschaffend mit dem Thema beschäftigen; ehrenamtliche oder hauptamtliche Helfer, die Menschen auf ihrem persönlichen Weg der Reflexion und Heilung begleiten. Die Tagung ist getragen von großer Aufmerksamkeit für die Impulse, den persönlichen Begegnungen und einer liebevollen sowie professionellen Ablauforganisation.
In unserem Blog können Sie einen Rückblick auf einige der letzten Tagungen werfen.