Chronik zur Jahrestagung des Kriegsenkel e. V. 2017

Thema: Vermächtnis und Vermögen

Chronistin: Jennifer Heinrich

Teil 1 | Freitag. Neuland

Am 24. Februar fahre ich von Hamburg nach Frankfurt, um kurzfristig als Chronistin für den erkrankten Hans Bartosch auf der Jahrestagung des Kriegsenkel e.V. einzuspringen. Kriegsenkel sind zu diesem Zeitpunkt für mich Menschen, die sich mit dem Schicksal ihrer Eltern und Großeltern befassen, um mehr über deren Geschichte zu erfahren. Es sind gründlich veranlagte, historisch und soziologisch interessierte Leute, die gerne das Große und Ganze und alles Drumherum betrachten. Manche haben vielleicht besonders interessante Erzählungen von ihren Großeltern gehört und spüren diesen nach. Bis kurz vor der Reise habe ich mich nicht mit diesem Gebiet befasst. Alles, was ich dazu parat habe, sind Vorurteile, weil zu einer Einschätzung die Beschäftigung mit dem Thema gehören würde. Deswegen bin ich zu diesem Zeitpunkt auch davon überzeugt, dass die Kriegsenkel und ihre Anliegen mit mir nur wenig zu tun haben. So sind die Vorurteile immerhin nicht emotional aufgeladen. Kriegsenkel, Briefmarkensammler, Vogelkundler, Schmetterlingsfreunde, all das gibt es eben. Natürlich dämmert mir, dass diese Indifferenz ähnlich peinlich wie Merkels Neuland-Geständnis ist. Bald werde ich vor Expertinnen und Experten über ein Thema sprechen, über das sie viele Bücher gelesen und einige davon selbst geschrieben haben.

Vor der Reise lese ich im Schnelldurchlauf Sabine Bodes Buch „Kriegsenkel – Die Erben der vergessenen Generation“. Beim Lesen wende ich innerlich ein, dass die Art wie eine so große Gruppe von Menschen im Leben zurecht kommt oder nicht zurechtkommt, multifaktoriell begründet sein muss. Sabine Bode stellt eine Reihe interessanter Gespräche vor. Ich habe schnell das Gefühl, die Probleme einiger Kriegsenkel, die bei ihr zu Wort kommen, nachempfinden zu können – nur wenig ist einfach, das meiste ist vielschichtig. So ist das Leben. Wer hat und hatte schließlich keine Probleme mit seinen Eltern? Noch bin ich skeptisch, ob es tatsächlich eine alle verbindende Kriegsenkelidentität gibt. Um etwas von allgemeiner Aussagekraft über die Gemeinsamkeit dieser Menschen sagen zu können, bräuchte es eine Kontrollgruppe, Personen, deren Eltern keinen Krieg erlebt haben und die unter annähernd identischen Bedingungen im selben Land aufgewachsen sind und leben. Einfache Ursache-Wirkungs-Schlüsse sind nicht zulässig. Die Familiengeschichten und Befindlichkeiten dieser Kontrollgruppe dürften also nur von den Eigenschaften ihrer Mitglieder, von klimatischen und unspektakulären politischen Bedingungen beeinflusst worden sein. So könnte man vielleicht unterscheiden, was die Folge eines Kriegstraumas ist und was auch ohne Krieg schiefgelaufen wäre – bei einer Mutter mit diesen Eigenschaften oder mit einem solchen Großvater. Natürlich bräuchte es auch deutlich mehr Fallbeispiele.

Im Zug stürze ich mich in Raymond Ungers Buch „Die Heimat der Wölfe“ und denke gar nicht mehr so viel. Stattdessen fühle ich etwas noch Undefinierbares, was ich der Tatsache zuschreibe, dass es sich hier um eine literarische Verarbeitung des Themas handelt, und man beim Lesen von Literatur eben etwas fühlt. Das ist ja Sinn der Sache.

In Oberursel angekommen sehe ich am Bahnhof eine sympathische Frau, die zur Tagungsgruppe zu gehören scheint. Woran ich das feststelle, kann ich nicht sagen. Verblüffender Weise erkennt auch sie in mir gleich eine Teilnehmerin und wir kommen ins Gespräch, während wir gemeinsam mit zwei anderen Frauen in der „Lounge“ Kaffee und Kakao trinken und auf den Bus zur Tagungsstätte warten. Von vielen Bildern an der Wand beobachtet uns Hemingway, der wohl etwas anderes bestellt hätte.

Wir sind uns sicher, die beiden anderen Frauen gehören zusammen, sie kennen sich schon ewig, lachen miteinander und vertrauen sich ihr Gepäck an. Später hören wir, dass auch sie sich zum ersten Mal begegnet sind und ähnlich über uns dachten.

In Dorfweil strömen viele Menschen und Gesichter vorüber. Es geht in die Zimmer und schon beginnt die Tagung. Der Vorstand des Kriegsenkel e.V., vertreten durch Michael Schneider, Franziska Holfert und Cosima Kurp heißt alle willkommen.

Nach dem Essen sitze ich mit etwa siebzig anderen im Dunkeln. Nur auf der Bühne gibt es Licht, das den Nebel in weiche Streifen teilt. Ich spüre so etwas wie Reserviertheit. Es gibt ja keinen Zwang, alles an sich heran zu lassen. Mein Notizbuch ist aufgeschlagen, ich bin im Dienst. Zweifel und Fragen tauchen auf. Was soll Tanzen denn mit Krieg zu tun haben? Ich sehe mich um und registriere auf manchen Gesichtern eine gewisse Anspannung. Die Musik setzt ein…

Teil 2 | Anton. Dämonen füttern | Claudia Schnürer

Bedrohliche Klänge durchziehen die ersten Minuten von „Anton. Dämonen füttern“. Claudia Schnürer taucht in das Leben ihres Großvaters ein, jagt Erinnerungsfetzen und Fragmenten hinterher, spürt den Erlebnissen Antons nach, die sich entziehen, bevor sie Konturen bekommen. Wer war er, was hat er im Krieg erlebt und weitergegeben? Nebel und sanftes Licht umhüllen das Publikum, während Claudia Schnürer das Unsagbare zum Ausdruck bringt und spielerisch von männlicher zu weiblicher Rolle wechselt. Wenige gesprochene Worte offenbaren die Unzulänglichkeit der Sprache angesichts Gewalt und ihrer Tabuisierung. Der Schrecken des Krieges fährt in die Protagonistin, lässt sie rückwärts im Kreis laufen und taumeln. Sehnsuchtsvoll und vergeblich sucht sie Schutz, wo keiner zu finden ist. Verzweiflung und Angst, Leere und Haltlosigkeit beherrschen die Bühne. All das spiegelt sich allein durch Bewegungen, durch Gestik und Mimik wider. Das zunächst behutsame Ringen um Erinnerung kippt in ein rabiates Knurren, die Dämonen der Vergangenheit erwachen in rastlosen Tänzen und jagen die Heldin bis zur Erschöpfung. Alltägliche Gegenstände wie Kleiderbügel verwandeln sich und bekommen eine neue Bedeutung, die Kulisse wird lebendig. Ein Mobilé aus Lupen versinnbildlicht den Wunsch, das schwer Greifbare klar zu sehen. Überall zeigt sich die Verletzlichkeit, die die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit mit sich bringen kann. Aber auch Verliebtheit, Freude und die liebevolle Beschäftigung mit den einzelnen Familienmitgliedern finden hier glaubhaft Ausdruck. Durch die sparsam eingesetzte Sprache tritt das Stück in den Dialog mit dem Publikum, es entsteht viel Raum für eigene Gedanken und Bezüge. Das Schweigen macht dieses Solo zum Duett. Seine Botschaften sickern tief ein und wirken lange nach.

Claudia Schnürer und Susanne Weins (Regie) treten nach einer kleinen Weile, die im wahrsten Sinne des Wortes eine Verschnaufpause ist, in den Dialog mit dem Publikum. Das Gesehene bekommt so weitere Konturen, ohne festgelegt zu werden.

Krieg kann durchaus tanzend dargestellt werden. Die Wirkung des Stücks setzt fast gegen meinen Willen ein und verfolgt mich bis in die Träume.

Irgendwann zwischen den Gesprächen in der „Taunusstube“, die etwas zu groß ist, um entweder urig oder beklemmend zu sein, dämmert mir, dass ich mich in dieser Gruppe ganz anders fühle als sonst in Gruppen. Ich bin kein Alien, es gibt viel wortloses Verständnis, ich spüre secret handshakes. Mir wird klar, dass ich selbst zu diesen Kriegsenkeln zähle, ja, gehöre. So etwas wie ein kleiner, positiver Kulturschock setzt ein.

Foto: René Ruelke

Teil 3 | Samstag. Tauchgang 

Katrin Himmler | Weibliche Schuldverstrickung im Nationalsozialismus und im Familiengedächtnis nach 1945

Anders als vielen Gleichaltrigen ging mir die Beschäftigung mit dem Nationalsozialismus während der Schulzeit keineswegs auf die Nerven. Ich empfand die Auseinandersetzung mit diesem Thema weder als übermäßig, noch war mir die Konfrontation mit dem Schrecken lästig. Im Gegenteil, ich wollte nicht, dass sie aufhörte und mich in einem Meer offener Fragen zurückließ. Vielleicht fehlte mir so etwas wie eine schützende Membran. Je mehr ich erfuhr, desto genauer wollte ich das Unbegreifliche verstehen.

Als Thema meiner mündlichen Abiturprüfung in Geschichte wählte ich „Die zweite Schuld“, nachdem ich Ralph Giordanos gleichnamiges Buch gelesen, und mich mit Alexander und Margarete Mitscherlichs Gedanken zur deutschen „Unfähigkeit zu trauern“ auseinandergesetzt hatte. Mit der zweiten Schuld sind das vielfach unterlassene Eingeständnis und die mangelhafte Aufarbeitung der ersten Schuld gemeint.

Fritz J. Raddatz hat sich in seinem lesenswerten Artikel „Die Lebenslüge der Deutschen“ von 1987 in der „Zeit“ mit Giordanos Buch befasst. Dort verwendet er ein Zitat von Thomas Mann, das mich schon zu Schulzeiten nicht losließ. Mann schrieb am 17. Juli 1944 in sein Tagebuch:

„Man soll nicht vergessen und sich nicht ausreden lassen, daß der Nationalsozialismus eine enthusiastische, funkensprühende Revolution, eine deutsche Volksbewegung mit einer ungeheuren seelischen Investierung von Glauben und Begeisterung war.“

„Das ist die Wahrheit, und alles andere, sage ich als Augenzeuge, ist Lüge. Die Verschmelzung war, bis auf Reste, total“, ergänzt Giordano in Raddatz Artikel.

Es gibt einen Rückstand in der Forschung zur Rolle der Frauen im Nationalsozialismus, betont Katrin Himmler, Politikwissenschaftlerin und Großnichte Heinrich Himmlers.

In ihrem Vortrag beleuchtet sie die Rolle der Frauen im Nationalsozialismus auch am Beispiel ihrer eigenen Familie. Sie erzählt, wie es war, als sie vor Jahren ein Buch über Heinrich Himmler und seine beiden Brüder schrieb, von denen der jüngste ihr Großvater war. Der berüchtigte Reichsführer SS Heinrich Himmler galt als schwarzes Schaf der Familie, was impliziert, dass alle anderen Schafe im Grunde weiß waren. Beim Schreiben ging es Katrin Himmler vor allem darum, der Legende der „unpolitischen Brüder“ kritisch zu begegnen und ihr durch die Dokumentation der eigenen Schuldverstrickung und der tatsächlichen Karrieren der Brüder im Nationalsozialismus etwas entgegenzusetzen.

Katrin Himmler möchte herauszufinden, welches Bewusstsein es über die Rolle der Frauen zur NS- Zeit, aber auch in den darauffolgenden Generationen gab. Sie ruft uns die Funktion Himmlers ins Gedächtnis:„Nach der Machtergreifung 1933 bekam er zunächst nur den Posten des Münchner Polizeipräsidenten, übernahm jedoch in den folgenden Jahren rasch die Polizeiführung in den einzelnen Ländern und war bereits1936 Chef der gesamten Deutschen Polizei, SS und Gestapo. Damit war er nicht nur verantwortlich für die Verfolgung und Ermordung sämtlicher Gegner des Regimes, sondern auch für den riesigen Apparat der Konzentrations- und Vernichtungslager zur Ermordung der europäischen Juden. Des weiteren war er ab 1939 „Reichskommissar für die Festigung des deutschen Volkstums“ und damit Beauftragter für die Siedlungspolitik im Osten, deren Voraussetzung massenhafte Zwangsumsiedlungen unter brutalsten Bedingungen und Ermordung oder Versklavung der ansässigen Bevölkerung waren.“

Als Katrin Himmler über die Verantwortung ihres Großonkels für den „riesigen Apparat der Konzentrations- und Vernichtungslager“ spricht, denke ich an die Karte des sogenannten Dritten Reiches und seiner besetzten Gebiete, die ich mir vor der Reise in einem „Informationen zur politischen Bildung“-Heft angesehen habe. Als farbige Quadrate sind dort die verschiedenen Lagerformen eingezeichnet: Konzentrationslager, T4- Tötungsanstalten, Vernichtungslager, Frauenlager, Hauptlager, Außen- Frauenlager, Sammellager, Durchgangslager und Ghettos. Die Karte ist von Quadraten übersät, kaum ein freier Fleck übrig und in der Legende steht hinter einigen der Kästchen das Wort „Auswahl“. Das heißt, es gab nicht genug Platz, um alle Lager abzubilden. Die Hauptdeportationsrouten durchziehen die Karte als graue Pfeile und bündeln sich in Auschwitz.

Das Klischee der unpolitischen Hausfrauen und Mütter kann Katrin Himmlers Recherche nicht standhalten. Sie findet heraus, dass die Frauen in ihrer Familie früh überzeugte und vielfach engagierte Nationalsozialistinnen waren. Am Beispiel von Himmlers Frau Marga wird diese Aussage während des Vortrags besonders plastisch.

Ich greife im Folgenden Passagen von Katrin Himmler heraus. Sie sprechen für sich.

„Marga Siegroth (die spätere Frau Himmlers) hingegen war als Krankenschwester und Miteigentümerin einer Privatklinik eine selbstständige Frau. Die beiden entdeckten auf ihrer Zugfahrt schnell Gemeinsamkeiten: ihre Ablehnung der Weimarer Republik, ihr Nationalismus und Antisemitismus, ihr Traum vom völkisch idealisierten Landleben.

(…)

Nach einer Polenreise im März 1940 notierte sie in ihrem Tagebuch:

„Dieses Judenpack, die Polacken, die meisten sehen gar nicht wie Menschen aus, und der unbeschreibliche Dreck. Es ist eine unerhörte Aufgabe dort Ordnung zu schaffen.“

Katrin Himmler sagt später:

„Im Vergleich zu den Männern hatten Frauen nur wenig politische Macht im „Dritten Reich“. Dennoch nutzten sie ihre geringeren Aufstiegschancen nach Kräften, etwa bei den zahlreichen neuen Möglichkeiten der Berufstätigkeit oder des politischen Engagements. Gerade im Gefolge der SS, als Aufseherinnen, SS-Helferinnen,

Angestellte der SS-Verwaltung in den besetzten europäischen Ländern, verdienten sie in der Regel deutlich mehr als in herkömmlichen weiblichen Berufen; zudem erfuhren zahlreiche BDM-Führerinnen und Frauenschaftsführerinnen der Partei Wertschätzung für ihre politische Tätigkeit, zumal sie in den Führungspositionen auch gut bezahlt wurden. Viele dieser Frauen, die in die Tausende gehen, entschieden sich aus politischer

Überzeugung für eine solche Tätigkeit außer Haus, andere eher aus persönlichen Gründen, sei es, weil sie von zu Hause weg wollten, weil sie den höheren Lebensstandard verlockend fanden oder weil, wie aus der Dienststelle des Sicherheitshauptamtes in Paris überliefert ist, eine Beschäftigung in der dortigen Verwaltung den Ruf hatte, ein vielversprechender Heiratsmarkt zu sein für junge Frauen, die durch Heirat mit einem SS-Führer zur neuen SS-Elite gehören wollten. Wie auch immer ihre Motive waren: den wenigsten unter ihnen konnte es verborgen bleiben, dass sie sich dadurch zu HandlangerInnen eines verbrecherischen Regimes machten, wenn sie etwa auf der Pariser Dienststelle der SS-Verwaltung täglich Deportationslisten für Juden tippten, oder wenn sie sich als Fürsorgerinnen, Ärztinnen, Hebammen, Krankenschwestern an den Morden an Kranken, Behinderten und sogenannten Asozialen beteiligten.“

Ein Auszug aus dem Abschnitt, in dem es um den „Umgang mit der braunen Familiengeschichte in den nachfolgenden Generationen“ geht:

„Diejenigen „Täterkinder“, die sich dazu durchringen, die Beteiligung ihrer Väter an den furchtbaren Verbrechen des Nationalsozialismus aufzuarbeiten, gehen keinen leichten Weg. Sie stehen zumeist vor der Schwierigkeit, dass sie einerseits, wie jedes Kind, ihren Vater lieben, ihn andererseits aber, wenn sie sich um eine ehrliche Auseinandersetzung bemühen, als geliebtes Vorbild demontieren müssen. Diesen Spagat auszuhalten ist schier unmöglich. Viele von ihnen entscheiden sich angesichts des Dilemmas entweder dafür, mit dem Vater zu brechen und ihn als Unmenschen zu verdammen, oder aber sie bleiben ein Leben lang in der Loyalität ihm gegenüber gefangen, hinterfragen seine Schuldverstrickung nur halbherzig oder gar nicht und machen sich somit zu Komplizen des Verschweigens, des Vertuschens und Leugnens. Nicht wenige dieser Kinder wählen als Ausweg aus der misslichen Lage, dass sie zwar die Schuld des Vaters anerkennen und aufarbeiten, im Gegenzug jedoch die Mutter unangetastet lassen. Dieses Bedürfnis, sich angesichts des väterlichen Verlustes zumindest das Bild einer guten, liebevollen Mutter bewahren zu wollen, erscheint mir nur allzu verständlich. Ich selbst musste bei meinen Recherchen feststellen, dass es mir viel leichter fiel, mich mit der Tatsache abzufinden, dass mein Großvater ein überzeugter Nationalsozialist war, als diesen Gedanken bei meiner Großmutter zuzulassen.

Die Aufspaltung in „böse Väter“ und „gute Mütter“ verstellt jedoch den Blick auf mehrere wichtige Tatsachen: nämlich zum einen darauf, dass die Frauen damals trotz fehlender Machtpositionen oft genauso rassistisch und antisemitisch wie ihre Männer waren, und ebenso stolz, der angeblich „überlegenen Herrenrasse“ anzugehören; zum anderen, dass es im Nationalsozialismus keine strikte Trennung zwischen öffentlicher und privater Sphäre gab, sondern dass alle Bereiche der Gesellschaft von der herrschenden Ideologie gleichermaßen durchdrungen waren.“

Katrin Himmlers Ausführungen lösen einige Gedanken in mir aus.

The man inside me does the killing?

Es gibt also eine dritte Schuld, nämlich die verschwiegene, verdrängte und verharmloste der Frauen, ihr Beitrag zur ersten Schuld. Katrin Himmler gehört zu den Pionierinnen der Aufklärung dieses wichtigen Themas. Es handelt sich dabei letztlich auch um eine feministische Frage, denn sie befasst sich mit der Verantwortung der Frauen für ihr Verhalten. Es geht um Mündigkeit und Ebenbürtigkeit in Rechten und Pflichten. Wer politisch mündig ist, trägt Verantwortung für das eigene Handeln und muss sich unabhängig vom Geschlecht an seinem oder ihrem Verhalten messen lassen.

Frauen werden seltener, und in der Regel durch weitaus weniger schwere Delikte straffällig als Männer. Sie üben, wenn auch möglicherweise zum Teil nur aus Mangel an Kraft, Macht oder Waffen, seltener Gewalt aus. Eine Ausnahme bilden Liebesbeziehungen. Nicht nur im Krieg wurden und werden Frauen dagegen besonders oft Opfer schwerer Gewalttaten. Diese Tatsachen mögen weitere Gründe für die schonendere Haltung sein, die viele einnehmen, wenn es um die Beurteilung der Verbrechen von Frauen im Nationalsozialismus geht.

So verständlich diese schützende Einstellung auf den ersten Blick ist, so wenig nützt sie weiblichen Opfern. Nicht, oder nicht genau hinzusehen, weil es sich um Täterinnen handelt, ist kein frauenfreundlicher, sondern ein zutiefst sexistischer Gedanke. Er wertet zudem das Leid derer ab, die von Frauen zu Opfern gemacht wurden.

Wir alle kennen die Bilder jubelnder Frauen auf NS-Paraden.

„Frauen fliegen auf Faschisten“, schreibt Erica Jong in den 1970er Jahren, wobei sie „Faschisten“ wohl nicht im politischen Sinn, sondern als sexuelles Rollenverhalten, als übersteigerte Maskulinität meint.

War der Nationalsozialismus aus weiblicher Perspektive etwa auch eine groupiehafte Vergötterung der Fratze falsch verstandener Männlichkeit? Der „echte Mann“ greift nicht nur durch, nein, er vernichtet, oder trägt wenigstens dazu bei und die Frau richtet ihm, was er dafür braucht: Uniform, Stiefel, Waffen?

„Werden wir unsere Begeisterung für den „Superdaddy“, der alle Probleme lösen kann, jemals überwinden?“, fragt Jong 2016 mit Blick auf die Wahl Trumps zum Präsidenten der USA. Bei aller berechtigter Kritik an der Oberflächlichkeit der Mitläuferinnen ist auch hier bemerkenswert, dass die Existenz von Überzeugungstäterinnen, wie Katrin Himmler sie beschreibt, kaum in Betracht gezogen wird. Frauen fliegen auf Faschisten, aber sie selbst können keine sein?

Bernhard Schlinks „Der Vorleser“ handelt unter anderem von der weiblichen Schuld in der NS-Zeit. Auch Schlink fällt es spürbar schwer, die ehemalige KZ-Aufseherin Hanna als voll verantwortlich zu zeigen. So kann sie manche Straftat nicht begangen haben, die ihr vor Gericht vorgehalten wird, weil sie Analphabetin war und dazu hätte lesen können müssen. Hanna wird verurteilt und lernt lesen, liest erst im Gefängnis nach, wie schrecklich die NS- Verbrechen waren. Schließlich nimmt sie sich am Tag ihrer geplanten Freilassung das Leben. Schlink baut Ausreden und mildernde Umstände ein. So entsteht neben der Täterinnenrolle eine paradoxe Opferrolle der Aufseherin. Es kann nicht, es darf einfach nicht sein, dass auch Frauen sehenden Auges und voller Überzeugung zu Monströsem fähig sind.

„The man inside me does the killing“, las ich vor Jahren auf einem T-Shirt einer amerikanischen Künstlerin, deren Namen ich nicht mehr weiß. Ich erinnere mich aber an ihre Argumentation, alle Gewalt sei männlich und selbst wenn Frauen gewalttätig würden, sei das nur ihrem männlichen Anteil anzulasten. Absurd angesichts der hohen Gewalttätigkeit von Frauen in Beziehungen. Katrin Himmler beschreibt sehr genau, wie es sich tatsächlich verhält: Es ist möglich, im Privaten eine liebevolle Person zu sein und dennoch Abscheulichstes zu tun oder zu unterstützen. Dazu sagt sie:

„Das Bedürfnis vieler Nachkommen, die Schuld allein den Vätern anzulasten und die

Mütter zu schonen, verstellt nicht zuletzt den Blick darauf, dass eine solch klare Trennung zwischen gut und böse – auch wenn sie unserem innersten Bedürfnis nach einfachen Wahrheiten entspricht – mit der Realität wenig zu tun hat: Menschen sind generell nicht nur gut oder nur böse, niemand wird als Mörder geboren, und schließlich, und das ist am schwersten auszuhalten: auch Massenmörder konnten zugleich liebende Männer und Väter sein, bzw., wie das Beispiel einer Nazifamilie der ersten Stunde zeigt, über die ich an anderer Stelle geforscht habe: in diesem Fall trug die Frau, die selbst Mutter von fünf Kindern war, zugleich als Krankenschwester und NS-Frauenschaftsführerin über die Mütterschulungen dazu bei, dass die behinderten Kinder anderer Mütter gleich nach der Geburt als „lebensunwert“ getötet wurden, ohne dass sie dadurch offenbar in einen moralischen Konflikt geraten wäre.“

Nicht nur die fremde Täterschaft, auch die eigene wirkt traumatisierend.

Zuletzt taucht ein beklemmender Gedanke in mir auf, der vermutlich schon von anderen gedacht und erörtert wurde. Mir ist er neu. Ein Trauma wird in der Regel als etwas von außen Kommendes definiert. Es ist aber sicher möglich, sich selbst zu traumatisieren, indem man Schreckliches tut oder unterstützt, während eine schweigende innere Instanz sich des Unrechts der eigenen Taten bewusst ist. So geht nicht nur das Vertrauen in die Welt, sondern vor allem die Selbstachtung und das Vertrauen zur eigenen Person verloren. Diese schlimme Möglichkeit ist natürlich nicht an etwas so Zufälliges wie das Geschlecht gebunden.

Teil 4 | Einblicke in Geschichte und Arbeit der Wehrmachtsauskunftsstelle (WASt) | Stephan Kühmayer

Nach Katrin Himmlers eindrucksvollem Vortrag verspreche ich mir von Stephan Kühmayers Ankündigung, eher mit trockenen Zahlen, Daten und Fakten aufzuwarten, eine gewisse Beruhigung der aufgewühlten Seele. Er wird, nehme ich an, über Amtswege informieren, auf denen man sich nach seinen Großvätern erkundigen kann, sofern diese beim Militär waren.

Tatsächlich folgen viele Zahlen, Daten und Fakten, deren Wirkung auf die Seele aber genau gegenteilig ist. Für mich bringt die Nüchternheit der Zahlen das Grauen näher als eine Kriegsdokumentation, deren dramatische musikalische Untermalung das Gezeigte eher abschwächt als betont.

Zahlen wie die der 18 Millionen Kriegsteilnehmer machen das Ausmaß des Wahnsinns noch einmal klar, beinah ein Viertel der heutigen Bevölkerung der Bundesrepublik! Nicht gezählt sind dabei die horrenden Kriegsteilnehmer der anderen Länder und deren schier unfassbare Verluste (russische Kriegstote).

In der Deutschen Dienstelle (WASt) arbeiten zurzeit genau 237 (!) Mitarbeiter. Die Personalkarteikarten, Wehrmachtspersonalunterlagen, Erkennungsmarkenverzeichnisse und Verlustmeldungen der Truppe, die Lazarett-Krankenbücher und Kriegsgefangenenakten füllen in der Wehrmachtsauskunftsstelle Raum um Raum, die Regale reichen bis unter die Decken. Stephan Kühmeyers Fotos dieser Archive zeigen eine geradezu gespenstische Sammlung von Lebensausschnitten unzähliger junger Männer, deren Schicksal jedes auf seine Art bewegt war.

Henry Sternweiler, Major der amerikanischen Streitkräfte, und Armand Klein, Commandant der französischen Armee, setzten sich 1946 für den Erhalt der Unterlagen der ehemaligen Wehrmachtauskunftstelle ein. Ihnen ist es hauptsächlich zu verdanken, dass das Schriftgut nicht von den alliierten Besatzungsmächten vernichtet wurde, sondern der Nachwelt erhalten blieb. Eine Gedenktafel im Eingangsbereich der Dienststelle erinnert an die beiden Offiziere.

Die DD (WASt) half und hilft auch heute vielen Angehörigen bei der Familienforschung, aber auch Historikerinnen und bei der Berechnung der Hinterbliebenenrente.

Noch immer sind eine Million Männer seit dem Krieg vermisst, die Identifizierung ihrer Gräber ist zum Teil noch möglich. Auch Kriegsverbrecher werden immer noch gesucht.

Stephan Kühmeyers Vortrag zeigt, wie kompliziert und aufwändig es ist, die Schicksale der Kriegsteilnehmer nachzuvollziehen, wenn dafür keine Computerdateien, sondern Dokumente in Papierform durchforstet werden müssen. Es wird klar, wie viel Mühe, Genauigkeit und Engagement die Arbeit hinter den Türen der DD (WASt) beinhaltet.

IML Kraft der Kriegsenkel

Teil 5 | Die Kraft der Kriegsenkel | Ingrid Meyer-Legrand

Nachdem sie den Begriff Kriegsenkel noch einmal definiert, betont Ingrid Meyer-Legrand, dass diese Generation zwar auch durch Traumata belastet ist, was zu Unsicherheiten und vielfach zu mangelndem Selbstwertgefühl führt. Andererseits verfügen die Kinder der Kriegskinder auch über ausgeprägte Stärken, über einen „ungeheuren Mut“ und eine „unglaubliche Experimentierfreudigkeit“.

Die Traumata der vorangegangenen Generationen werden weitergegeben oder „transgenerationell vererbt“. Mutter oder Vater sind als Kinder während der NS-Zeit, durch Verfolgung, Internierung, Krieg, Flucht und Vertreibung traumatisiert worden. Die Folgen dieser Schrecken bleiben und breiten sich durch eine spezifische Kommunikation in der ganzen Familie aus.

Ingrid Meyer-Legrand lenkt in ihrem Vortrag den Blick bewusst nicht allein auf die Defizite und Schwierigkeiten, sondern vor allem auch auf die Stärken. Kriegsenkel entwickeln zum Beispiel besonderen Mut, wenn sie sich der Schwäche anderer stellen. In ihren Familien nehmen sie früh bestimmte Rollen ein, die ihnen zugeschoben werden, nämlich: Die Eltern für die Eltern zu sein. Diesen Prozess nennt man „Parentifizierung“, führt Ingrid Meyer-Legrand aus. Hier findet eine Rollenumkehr zwischen Kindern und Eltern statt. Ihre Bedürfnisse und Wünsche als Kinder haben in diesen Beziehungen keinen Platz. Die elementare Versorgung wird gewährleistet, während die seelische Seite nicht, oder nicht genug angesehen wird.

Wenn dieser Prozess lange anhält, kommt es zu den oben genannten Auswirkungen: Unsicherheit, fehlendes Selbstwertgefühl. Aber auch die Entwicklung von Stärke wird angestoßen, weil die Kinder schon von klein auf an große Verantwortung übernehmen oder übernehmen müssen. Eigenschaften wie Ausdauer, Zähigkeit und Klugheit entstehen. Durch die Herausforderungen einer Kindheit als Kriegsenkel kann man sowohl wachsen, als auch geschwächt werden.

Viele Kriegsenkel fühlen sich getrieben und auf der Flucht. Sie stehen immer wieder vor der Notwendigkeit sich selbst zu erfinden. Dabei stehen ihnen oft ihre hohe Sensibilität, eine gewisse Orientierungslosigkeit und diffuse Versagensängste im Weg.

Männliche Kriegsenkel leiden nach Ingrid Meyer-Legrand oft unter einem schwachen Selbstbewusstsein. Das Vergewaltigererbe der Kriegszeit kann die eigene Sexualität problematisch machen und es gibt insbesondere für Männer eine Art Verhaltensvakuum, wenn es um Führung und Autorität geht. Ingrid Meyer-Legrand betont die historische Berechtigung dieses Vakuums.

Neben den Qualitäten, die Kriegsenkel durch ihre Herkunft ausgebildet haben, gibt es für Ingrid Meyer-Legrand die Seite des Hineinwachsens in eine offene Gesellschaft, die zu Beginn der 70er Jahre angetreten ist, mehr Demokratie zu wagen. Die neuen Möglichkeiten, die dann sukzessive gewachsen sind, hat die Generation der Kriegsenkel genutzt und ganze Landschaften von neuen Lebensformen entwickelt.

Ingrid Meyer-Legrand ist davon überzeugt, dass die Kriegsenkel in dieser Zeit begonnen haben, sich und ihre Bedürfnisse, die in der Familie schlicht zu kurz kamen, endlich ernst zu nehmen, indem sie sich bei jeder ihrer (politischen) Aktionen gefragt haben: Was hat das mit mir zu tun? Kriegsenkel haben auch durch diese Introspektionsfähigkeit eine ganz neue Perspektive auf das Leben entwickelt, in der die Trennung zwischen Arbeit- und Privatleben mehr und mehr aufgehoben werden soll. Sie wollen ihr Leben nicht auf die Zeit der Rente verschieben. Arbeit soll Sinn haben und mit dem Privatleben verbunden sein. Aus dem Wunsch, frei von etwas zu sein wird die Möglichkeit der Freiheit zu etwas. Die Stärke der Kriegsenkel besteht für Ingrid Meyer-Legrand darin, zu erkennen, dass das Private politisch ist.

In ihrem Vortrag über „Die Kraft der Kriegsenkel“, der den gleichen Namen wie ihr Buch trägt, wird neben den vielen interessanten Eindrücken und Zeugnissen aus ihrer Praxis spürbar, wie zugewandt, sensibel, optimistisch und zutiefst menschenfreundlich Ingrid Meyer-Legrands Haltung ist. Weil sie das Gewicht des Vermächtnisses so gut kennt, gibt ihr warmer Blick auf das Vermögen der Kriegsenkel Mut und Kraft.

Raymond Unger

Teil 6 | Kreativität als Königsweg der Selbsterkenntnis und Transformation | Raymond Unger

Als Raymond Unger seinen Vortrag beginnt, gehen mir Bilder und Szenen aus seinem Buch „Die Heimat der Wölfe“ durch den Kopf. Dort erzählt er schlaglichtartig über die Schicksale seiner Familie im Krieg.  So entstehen nach und nach zwei Bilder: eins davon, wie es damals war, und eines davon, wie es gewesen sein mag, in dieser Familie aufzuwachsen. Seine Schilderungen zeigen, dass es natürlich nicht die eine, bei allen ähnlich verlaufende Geschichte der Kindheit mit Eltern der vergessenen Generation gibt. Es gibt wohl so viele verschiedene Lieder dieses Erlebens, wie es Menschen gibt, aber die Melodie der Themen wiederholt sich in Variationen, und das ist kein Zufall.

Raymond Unger führt aus, dass die Double Bind-Kommunikation typisch für das ist, was Kriegsenkel mit ihren Eltern erleben. Wer als Kind immer wieder implizit oder explizit doppeldeutige Botschaften wie: „Geh weg, aber lass mich nicht allein“ oder „Kümmer’ dich um mich, aber komm mir nicht zu nah“, bekommt, wird innerlich bewegungsunfähig. So werden Kinder zu Abhängigen, die Situationen voll quälender innerer Spannungen nicht verlassen können. Sie dürfen weder sich als Opfer sehen, noch andere als Täter benennen. Dadurch entsteht ein unlösbares Problem, das weitergegeben wird. Als einziges Ventil würde der Ausdruck von Wut helfen – aber auch das ist verboten. Hat die Wut kein echtes Gegenüber, verwandelt sie sich in Farben der Ohnmacht und mutiert schließlich zu Wut gegen sich selbst.

Es scheint anderen Teilnehmerinnen und Teilnehmern der Tagung ähnlich wie mir zu gehen, als Raymond Unger das beschreibt: Konkrete Situationen aus der eigenen Kindheit tauchen auf, die beklemmende Wirkung dieser Kommunikation ist plötzlich wieder zu spüren. Sie ist vor langer Zeit in jede Zelle gekrochen. Ich höre Menschen leise seufzen und sehe Hände, die sich über Gesichter fahren, als könnten sie diese alte Last dadurch wegwischen.

Raymond Ungers eigener Weg zeugt von einem ungewöhnlich tiefen Wunsch und von der Entschlossenheit, ihn sich zu erfüllen. Die zunächst zickzackartigen Stationen seiner frühen beruflichen Laufbahn führen zum mutigen Sprung von therapeutischer Arbeit in die Malerei. Es ist ein in verschiedener Hinsicht riskanter Rückzug unter teils prekären Lebensbedingungen und mit offenem Ausgang. Dieser Sprung ist in seinem Fall ein doppeltes Wagnis, weil Raymond Unger beim Malen kein Blatt vor den Mund nimmt, sondern sich konsequent und mit einer teilweise drastischen Bildsprache den Themen stellt, die ihn geprägt haben.

In seinem Buch „Die Heldenreise des Künstlers“ geht Raymond Unger auf die Herausforderungen, Risiken und Chancen ein, die eine künstlerische Auseinandersetzung mit sich selbst und der Welt bedeuten kann.

Selbstkonfrontativ ist seine Kunst, ein Bekenntnis zur Entscheidung, sich nicht in Bildern auszudrücken, die rein ästhetische Motive und Motivationen haben, sondern die Auseinandersetzung mit den zentralen eigenen Lebensthemen zu suchen, unabhängig von deren Kompatibilität mit gesellschaftlichen Moralvorstellungen und Erwartungen.

Sobald die so entstehenden Werke für alle sichtbar sind, liefert sich eine Künstlerin oder ein Künstler natürlich den Wertungen und Interpretationen der Außenwelt auf ganz andere Art und Weise aus, als jemand, der eine Landschaft oder ein Stillleben von Obst malt, oder ein Arrangement aus Strohhalmen präsentiert. Über diesen Unterschied erzählt Raymond Unger: Als neues Mitglied des Berufsverbands bildender Künstler präsentierte er seine Bilder einst vor anderen Künstlern in einem Seminar und fühlte sich bald fehl am Platz, da alle der anderen Konzeptkünstler waren, und nur er etwas von seiner Seele gezeigt hatte. Als Autodidakt spürte er die Distanz zu den akademisch ausgebildeten Kollegen entfernt. Sie schienen seine künstlerische Ausrichtung zu  belächeln. Die Bedeutung des Unterschieds zwischen eklektischer und selbstkonfrontativer Kunst brachte ihn 2010 dazu, die „Deutschen Remodernisten“ zu gründen.

Während Raymond Unger vorträgt, springen viele innere Fenster auf. Es fällt mir schwer, nicht zu jedem hinzulaufen um hinauszusehen, denn seine Themen sind für mich selbst fundamental wichtig, die psychologischen wie die künstlerischen. Autobiografische Elemente werden auch in der Literatur gern als Zeichen dafür gewertet, dass jemand noch ganz am Anfang steht, oder naiv ist, oder nicht von sich absehen kann. Reife, arrivierte Schriftstellerinnen und Schriftsteller abstrahieren. Das Persönliche wird schnell als Betroffenheitsliteratur abgewertet.

Resilienz, ursprünglich ein Begriff aus Werkstoffkunde und Ingenieurswissenschaft, beschreibt die Fähigkeit eines Materials auch nach starker mechanischer Belastung in seine ursprüngliche Form zurückzukehren. Übertragen auf Menschen bedeutet das, innerliche Stärke und Widerstandskraft zu behalten. Resilienz ist eine Kraft, die Menschen trotz widriger Lebensumstände nicht auf eine der vielen schiefen Bahnen des Daseins führt, sondern auf den eigenen Weg, in ein erfolgreiches Leben. Welche Kriterien für den Begriff Erfolg herangezogen werden, ist natürlich Ansichtssache. Für mich bedeutet das Wort größtmögliche Selbstbestimmung. Nachdem ich „Die Heimat der Wölfe“ gelesen habe, sehe ich in Raymond Ungers Weg ein Modell für eine gelungene, resiliente Entwicklung hin zu dieser Unabhängigkeit.

Mit seiner Kunst den Durchbruch im etablierten Kunstbetrieb zu schaffen, war mit der Überwindung innerlicher und äußerer Hürden verbunden. Raymond Unger spricht von einer Mauer zwischen Selbsterfahrungskunst und professioneller Kunst.

Die Verbindung zwischen Kreativität und dem Kriegsenkelthema wird besonders deutlich, als er von den Fähigkeiten vieler Kriegsenkel spricht: Antizipation, Flexibilität, Alarmantennen notiere ich, beschreiben die Voraussetzung für Kreativität.

Was bislang eher mit Scham, mit dem Bewusstsein neurotischer Eigenschaften besetzt war, bekommt eine positive, ermutigende Färbung. Hier schließt sich auch der Kreis zu Ingrid Meyer-Legrands Beitrag: Die seelischen Schäden, die erworbenen Macken, Schrammen oder Neurosen, die Unsicherheiten und lästigen Aspekte des Kriegskindererbes haben eine glänzende Seite. Sie bieten insbesondere in der Kunst (in allen ihren Ausprägungen) die große Möglichkeit, die eigene Stimme in dem zu entdecken, was man tut.

Ich fürchte, ich könnte diesen Beitrag immer weiter über die Ufer treten lassen. Stattdessen ende ich mit drei Aussagen. Eine stammt von Joseph Beuys, den Raymond Unger auf der Tagung zitiert:

 „Jeder Mensch ist kreativ und kann Künstler sein – wenn er die ständige Konfrontation mit dem eigenen Ich riskiert.“

Die beiden anderen begleiten mich seit vielen Jahren:

„Kunst und Leben sind ein und dasselbe.“ Ludwig Hohl

„Und die Krux ist, nichts zu riskieren, bedeutet sogar, noch mehr zu riskieren.“ Erica Jong

Sebastian Heinzel

Teil 7 | Der Krieg in mir. Werkstattgespräch | Sebastian Heinzel

Seit 12 Jahren reist Sebastian Heinzel immer wieder nach Weißrussland. Es hat ihn früh dorthin gezogen, wo sein Großvater als junger Wehrmachtssoldat mit der Luftwaffe an der Ostfront gekämpft hat. Dass darin ein zentrales Motiv seiner Reisen liegt, ist ihm allerdings erst später klar geworden, nachdem ihn die Geschichte seines Großvaters regelrecht in ihren Bann zog. Er selbst beschreibt das so: „Schweißgebadet wache ich nachts auf. Immer wieder derselbe Traum. Ich sitze in einem Panzer und schieße auf Menschen. Alle sprechen russisch. Ich bin im Krieg.“

Jetzt fährt er wieder nach Weißrussland in die Region Baranowitsche, in der sein Großvater verwundet wurde. Dort ist er vor Jahren schon einmal gewesen. Im Nachhinein verblüfft es ihn, wie früh er bereits den Spuren seines Großvaters folgte, ohne sich das bewusst vorgenommen zu haben. Weißrussland scheint ihn auf eine geradezu magische Art und Weise anzuziehen. Witebsk und Lepel heißen weitere Städte, die Sebastian Heinzel für die Recherche zu seinen Filmprojekten bereist.

Wir sehen Ausschnitte aus seinem Film „Der Krieg in mir“, der noch unter dem Arbeitstitel „Der Krieg in uns“ läuft. Bei aller Schwere, die das Thema naturgemäß mit sich bringt, ist alles, was wir von Sebastian Heinzels Arbeiten sehen, doch leicht erzählt. Die Blicke auf seine Familie sind auch dann noch warm, wenn sie kritisch sind. Wir begegnen als Zuschauerinnen und Zuschauer dem Großvater und dem Vater, dessen strahlendes Lächeln rührend wirkt – er hat es seinem Sohn ganz offensichtlich vererbt. Sebastian Heinzel trägt vieles mit diesem Lächeln vor, stellt Lustiges und Todernstes nebeneinander. Augenzwinkernd erzählt er vom neutralen Kamerateam aus der Schweiz, das ihn begleitet, nachdem es mit der Zusammenarbeit mit den Deutschen nichts wurde.

Man spürt bei allem, was Sebastian Heinzel vorträgt, den Ernst, die Neugier, die Experimentierfreude mit den eigenen inneren Bezügen und die Leidenschaft Filme zu machen. Wie war das Leben des Großvaters, der auf den wenigen Soldatenfotos ebenfalls lächelt, als sei ihm die unmenschliche Aufgabe, die er erfüllt keine Last? Wie haben sich die Kriegserfahrungen in der Familie ausgebreitet? So gelassen der Großvater auf dem Kriegsfoto wirkt, so wenig souverän war er später zuweilen, da konnte er „ausrasten“ und „explodieren“. Begriffe, die an Kriegsgeschehen erinnern. Dass er Menschen in vorderster Front erschossen haben muss, ist Sebastian Heinzel klar.

Wir lachen immer wieder während seines Vortrags. Sein Plan, in der Uniform des Großvaters in Weißrussland zu filmen, wo junge Weißrussen den ersten und den zweiten Weltkrieg nachspielen, löst Gemurmel im Raum aus. Auch auf mich wirkt dieses Vorhaben etwas befremdlich – was denken und fühlen die Menschen dort beim Anblick eines Deutschen in Wehrmachtsuniform? Ist das nicht auch gefährlich?

Lebendig und lebensnah, traurig, differenziert und nicht wertend ist Sebastian Heinzels Arbeit. Die Würde der Personen, die in den Filmausschnitten auftreten wird nie geschmälert, nichts wirkt lächerlich oder gewollt. Mutter und Vater, Cousin Sascha, der sich seine eigene Welt oder seinen eigenen Umgang mit ihr geschaffen hat. Das Fehlen der Sprache des Onkels, wenn es um die Folgen des Krieges auf das eigene Leben und Erleben geht. Die Tränen und das tiefe Bedauern über die Scheidung offenbaren eine zarte Seele und Verantwortungsbewusstsein, aber der Krieg und seine psychischen Folgen werden ausgeblendet. Es gibt nur persönliches Versagen, kein kollektives Scheitern. Die gesellschaftlichen Bedingungen der Eltern sind das, was alle so selbstverständlich umgeben hat wie die Luft. Diese allgemeine, alle betreffende Verfassung ist vergangen und scheinbar nicht der Rede wert. So war es eben.

Sebastian Heinzel gibt sich damit nicht zufrieden. Er will wissen, wie es wirklich war, wie es sich angefühlt haben mochte. Seine Arbeit, das wird sehr deutlich, ist vom tiefen Bedürfnis angetrieben, zu verstehen, verständlich zu machen und Verbindungen zwischen früher und heute sichtbar werden zu lassen. Das gelingt ihm ohne Pathos.

Andere Filme von Sebastian Heinzel heißen „Die Deutschen sind zurück“, „89 Millimeter“ und „Samagon“. Die Entwicklung des Titels seines aktuellen Filmprojektes ist bezeichnend für Sebastian Heinzels eigene Entwicklung vom Allgemeinen zum Persönlichen: Aus „Wir Kriegsenkel“ wird „Der Krieg in uns“ und schließlich „Der Krieg in mir“.

Ich freue mich sehr darauf, den ganzen Film zu sehen. Parallel dazu wird es ein Buch geben, das im Kamphausen Verlag erscheint. Schöne Aussichten!

Teil 8 | Sonntag. Aufbruch

Das Zweitzeugen-Projekt des Heimatsucher e.V. | Vanessa Eisenhardt

Nach einem Abend am Lagerfeuer beginnt der Sonntag mit Vanessa Eisenhardts Vorstellung des HEIMATSUCHER e.V.

Der seit 2014 eingetragene Verein widmet sich dem Kontakt mit Schoah-Überlebenden. Im Zentrum stehen Gespräche, die in Israel aufgezeichnet werden. In Deutschland gelangen sie in Ausstellungen, in Projektarbeit mit Schulklassen und Wissenschaftsarbeit an die Öffentlichkeit. So entsteht ein intensiver Austausch zwischen den letzten Überlebenden des Holocaust und deutschen Studentinnen und Studenten. Schülerinnen und Schüler ab Klasse vier hören die Geschichten der Überlebenden. Das hervorragende Wortspiel „Zweitzeugen“ verbildlicht das Bewahren der Erinnerung.

Vanessa Eisenhardt erzählt von den Erinnerungen einzelner Überlebender, die zum Teil ihr Leben lang mit niemandem über das, was ihnen angetan wurde, gesprochen haben. Im eigenen Land haben sie keinen guten Ruf, weil ihr Überleben oft als Zeichen dafür gedeutet wird, dass sie mit den Deutschen unter einer Decke steckten. Jetzt teilen sie ihre Albträume ausgerechnet den Nachfahren dieser Deutschen mit. Die ehrenamtlich tätigen HEIMATSUCHER kommen aus dem ehemaligen Feindesland, dem Land der Verfolgerinnen und Verfolger. Zuweilen braucht es entsprechend lange, um die Holocaust-Überlebenden für ein Gespräch zu gewinnen. Wenn es gelingt, öffnen sich Welten voller realer Albträume und Berichte über den Kampf im späteren Umgang damit.

Ich sitze weit hinten im Saal. Viele beginnen zu weinen, während Vanessa Eisenhardt spricht.

Die HEIMATSUCHER sind Botschafterinnen und Botschafter zwischen unserer Gesellschaft und jenen, die durch die Deutschen von damals schwer bedroht, misshandelt und fast getötet wurden. Sie reichen Hände, die längst früher hätten gereicht werden müssen. Und sie tun es, bevor es dafür zu spät ist. Für mich wäre diese Arbeit ein guter Grund für die Verleihung des Bundesverdienstkreuzes. Die HEIMATSUCHER stellen jenen in ihrer Generation etwas entgegen, die „lustige“ Selfies auf dem Holocaust-Mahnmal schießen. In Zeiten, in denen der sogenannte Politiker der AfD, Björn Höcke von einem „Mahnmal der Schande“, das sich Deutschland „ins Herz seiner Hauptstadt gepflanzt“ habe, schwadroniert, setzen die HEIMATSUCHER ein Signal, das goldrichtig ist.

Teil 9 | Vermächtnis und Vermögen – und die Zukunft der Gesellschaft | Hans Bartosch

Trotz seiner Erkrankung trägt Hans Bartosch in Schriftform noch zur Tagung bei – mit einem Bild, das zeigt, wie Kriegsenkel in seinen Augen sind und nicht sind, und worin ihre Aufgabe liegt. Michael Schneider trägt Hans Bartoschs Gedanken stellvertretend vor. Die dreißig Aussagen ergeben zusammen ein Ganzes. Sie sprechen am besten für sich:

Wir verdauen als Kriegsenkel am unfasslichen Grauen.

Wir spiegeln den Spiegel in den Augen und Herzen der Kriegskinder.

Wir werden dabei magisch an Orte gezogen, die uns verwundern.

Wir haben materiell so viel bekommen, wie noch keine Generation vor uns,…

…und sind aber so nicht satt geworden und auch nicht satt zu bekommen.

Wir sind so irritierend empfindlich und nicht immer so preußisch belastbar und hart.

Für Ideologie haben wir wenig Sinn, Fundamentalistisches ist uns fremd und sehr fern.

Die Institutionen sehen wir pragmatisch.

Moralische Autoritäten per se anerkennen und wollen wir nicht.

Vielleicht können wirklich erst wir als Kriegsenkel bestimmte Dinge aushalten und aussprechen.

Ohne Auf-Arbeitung.

Aber eben hinsehen und hinhören.

Erschrecken über die Großeltern und zugleich ahnen, dass wir keinen Deut besser wären.

Das aushalten, in Würde.

Also, bloß nicht die Welt retten.

Und allen harschen Weltrettern klar die Rote Karte hinhalten.

Verfassungspatrioten werden, nüchtern auch hier.

Sich wehren, wenn es dran ist.

Die Gefahren von Religion sehen, von Dogma und Ekstase.

Die Vielfalt von Religionen und Weltanschauungen schätzen, Unterschiede aushalten, aber eben auch faszinierend finden.

Zum Punkt kommen können, auch in den digitalen Wüsten.

Verletzlichkeiten zeigen, Verletzungen zugeben können.

Wissen, dass die Wunde zum Menschsein gehört.

Nichts davon „wegmachen“.

So was wie Zeugenschaft übernehmen, an den Sterbebetten der Kriegskinder, so nüchtern und versöhnlich wie möglich.

Die Staffel weiterreichen.

Die Erde nicht aufgeben.

Vielleicht weil auch dies ein Vermächtnis ist, …

… eines, das durch die letzten Generationen zu uns geflossen ist:

Die Erde nicht aufgeben!

Damit endet die Jahrestagung des Kriegsenkel e.V.

Eine letzte Gesprächsrunde zeigt, wie dankbar das Publikum für das weite Spektrum hochinteressanter Beiträge und Austauschmöglichkeiten ist. Die Auswahl ist dem Vorstand des Vereins zu verdanken.

Ich fahre mit einer Bücherliste im Kopf, einem erweiterten, vollständigeren Bewusstsein für meine eigene Identität und vielen neuen Gefühlen nach Hause. Dass man mit Kriegsenkeln auch Abenteuer erleben kann, lerne ich am Frankfurter Bahnhof, als ein Mann versucht, meinen Koffer zu stehlen und damit in einer S-Bahn zu verschwinden. Ich kann es verhindern, indem ich ihn dem Möchtergerndieb entreiße. Zwei Kriegsenkelinnen bezeugen das Ganze und attestieren mir typische Kriegsenkeleigenschaften, zum Beispiel große Wachsamkeit…

Die Rückreise bleibt holprig, Züge fahren uns vor der Nase weg, andere lassen lange auf sich warten. Aber die Gegenwart der „Mitenkelinnen“, mit denen ich in intensive Gespräche gerate, macht das alles zu einem Vergnügen. Noch nie habe ich mich mit Wildfremden so wohl gefühlt.

Danke für die Einladung zu dieser besonderen Tagung!

P.S.: Zwei eigene Gedanken sind mir noch wichtig zu diesem Thema.

  1. Das Erleben der Kindheit als Kriegsenkel scheint als gemeinsames Kennzeichen einen Mangel an Unbeschwertheit zu haben. Die Gründe dafür sind im Einzelnen wohl verschieden, ein Teil der Ursachen, nämlich die Traumatisierung der Eltern, gleicht sich. Zu dem, was man als Kind an Belastendem erlebt hat, einen Gegenentwurf zu entwickeln, finde ich wichtig. Ich habe das oft schon damals getan, aber ich bin sicher, dass es auch nachträglich möglich ist. Wie wäre man gut behandelt worden in dieser oder jener Situation? Welche Worte hätte es gebraucht, wie hätte die Atmosphäre sein können? Wie würde sich ein offener, liebevoller Elternteil gegenüber einem verängstigten Kind verhalten? Die Antworten auf solche Fragen sind früh so etwas wie seelische Leitplanken für mich gewesen und diese Art, Menschen und Situationen zu betrachten hilft mir auch heute im Umgang mit anderen und mir selbst.
  1. Der Gegenentwurf-Gedanke hat mich zum Nachdenken über einen Gegenentwurf zum Begriff Krieg gebracht. Das Gegenteil von Krieg ist Frieden, und der wird oft als die bloße Abwesenheit von gewalttätiger Auseinandersetzung verstanden. Für mich ist das Gegenteil von Krieg Geborgenheit.

Jennifer Heinrich, April 2017